Gesetze im Schatten der WM?

Am Donnerstag, dem 14. Juni 2018, wurde um Punkt 17 Uhr das erste Spiel der Fußball-WM von 2018 angepfiffen - Gastgeberland Russland spielte gegen Saudi-Arabien und eröffnete damit die 21. Austragung des Turniers. Wenn die Weltmeisterschaft bis dahin nicht Thema Nummer Eins in Medien und Gesprächen war, war sie es spätestens jetzt. Diskutiert wurde über das Austragungsland, die FIFA, Putin, Özil, Gündogan, Erdogan, über Außenseiter und über Favoriten. Natürlich gab es auch andere Themen, die wichtig waren: BAMF, Trump, Flüchtlingsschiffe, Missbrauchsfälle - doch sie alle schienen im Schatten der WM unterzugehen. Zumindest bis zum 27. Juni, als Deutschland gegen Südkorea verlor und damit aus dem Turnier ausschied. Dann wurde panisch darüber diskutiert, wie es dazu kommen konnte, wer die Verantwortlichen dafür sind und welche Konsequenzen der DFB daraus ziehen müsste - natürlich hatte jeder Bundesbürger eine hochqualifizierte Meinung dazu.
Sobald der erste Schock überwunden war, wachte der durchschnittliche Bürger auf und stellte fest: Es gibt eine ganze Reihe neuer Beschlüsse und irgendwie stecken wir auch in einer Regierungskrise. Wie hat man das nur verpassen können?

Einige Medien fragen nun, ob Großereignisse wie Welt- und Europameisterschaften gezielt dazu genutzt werden, um unpopuläre Entscheidungen durchzusetzen. Der Gedanke dahinter: Die Bevölkerung ist abgelenkt, es gibt Brot und Spiele für alle, also wird es kaum zu einem Aufschrei kommen. Der Faktenfinder der Tagesschau hat Ergebnisse des Handelsblatts, Deutschlandfunks, der Frankfurter Rundschau, Huffington Post und der Epoch Times gesammelt und gebündelt: 

2006 (WM): Bei der Weltmeisterschaft im eigenen Land wurde am 16. Juni die Erhöhung der Mehrwertsteuer beschlossen. Eine spontane Idee war das natürlich nicht. Bereits im November 2005 hatte die Große Koalition die Steuererhöhung als Ziel festgelegt, der dazugehörige Gesetzentwurf wurde am 17. März 2006 vorgelegt und am 19. Mai wurde im Bundestag darüber abgestimmt. 

2010 (WM): Einen Tag vor dem Halbfinale Deutschland gegen Spanien brachten die CDU und FDP als Koalition den Gesetzentwurf über eine Erhöhung der Krankenkassenbeiträge ein. Doch auch dieser Gesetzentwurf hatte eine lange Vorgeschichte und die tatsächliche Verabschiedung ließ auf sich warten - noch vier Monate wurde über die Gesundheitsreform diskutiert, dann schließlich wurde das Gesetz zur nachhaltigen und sozial ausgewogenen Finanzierung gesetzlicher Krankenkassen beschlossen. 

2012 (EM): Während das Halbfinale Deutschland gegen Italien lief, wurde im Bundestag ein neues Gesetz innerhalb von 57 Sekunden verabschiedet. Der Grund für die schnelle Abstimmung und die Verabschiedung des Gesetzes war die Tatsache, dass nur sehr wenige Parlamentarier im Bundestag anwesend waren. Tatsächlich wurde das neue Gesetz wenig später vom Bundesrat kassiert. 

2014 (WM): Als Deutschland gegen Italien im Viertelfinale spielte, wurde eine Reform der Lebensversicherung verabschiedet: Der Garantiezins für Neuverträge sank und machte Lebensversicherungen daher unattraktiver. Die Abstimmung fand während der WM statt und auch der konkrete Gesetzentwurf wurde zu der Zeit ausgearbeitet. Allerdings hatte man schon im Mai über das Thema diskutiert gehabt. 

2018 (WM): Die Änderung des Parteiengesetzes wurde am Tag des Eröffnungsspiels verabschiedet. Die AfD warf daraufhin der Regierung vor, sie hätte "im Windschatten der WM" das Gesetz über die Parteienfinanzierung durchbringen und damit die Öffentlichkeit überrumpeln wollen. Auch dieser Gesetzentwurf kam nicht erst während der WM zustande: Er wurde schon am 5. Juni veröffentlicht und die Süddeutsche Zeitung sowie die Bild haben darüber berichtet. 

2018 (WM): Am 20. Juni wurde in der EU die Urheberrechtsreform als Vorschlag vom Rechtsausschuss des Parlaments gebilligt - bis zum Erscheinungstermin des Artikels wurde die Reform auch nicht durchgesetzt, nachträglich wurde sie fallen gelassen. Dieser Entwurf wurde allerdings auch schon seit 2016 diskutiert.

Während die AfD und einige Bürger die Theorie des "geräuschlosen Durchregierens" für plausibel halten, widerspricht der Politikwissenschaftler Stephan Bröchler dieser Annahme. Rein rechtlich wäre ein beschleunigtes Gesetzgebungsverfahren möglich - bereits nach der ersten Lesung könnte man mit einer Zweidrittelmehrheit in die zweite Lesung übergehen. Allerdings ist das in der Praxis selten der Fall - der Politikzyklus mit dem Entscheidungsfindungsprozess ist ein komplexes Vorgehen, das sich nicht wirklich vorausplanen lässt. Würde man aber gezielt Gesetze während der WM verabschieden wollen, müsste man eben das tun - genau das ist aber äußerst unrealistisch. Bröchler sagt dazu:
"Hinter der These von der Manipulation des Gesetzgebungsverfahrens verbirgt sich ein Verständnis, dass Politik in erster Linie ein schmutziges Geschäft sei. Diese Art von Verschwörungstheorie nährt Politikverdrossenheit."
Zudem tragen längst nicht alle Bürger während der WM Scheuklappen, die alles ausblenden, was abseits vom Fußball liegt. Das Parteiengesetz konnte nicht unbemerkt verabschiedet werden und ist durchaus von Bürgern und Kritikern bemerkt worden.

Es gibt zwei denkbare Möglichkeiten, weshalb die Annahme, dass unbeliebte Gesetze nebenbei verabschiedet werden, weit verbreitet ist: Zum einen nannte Bröchler die Politikverdrossenheit und das Verständnis von Politik als schmutziges Geschäft. Wer sich nicht für Politik interessiert und kein politisches Verständnis hat, weiß nun mal nicht, wie Gesetze verabschiedet werden und welch langer Prozess dahinter steckt. Zudem können ebendiese Gesetze dafür genutzt werden, um gegen "die da oben" zu wettern.

Ein weiterer möglicher Grund wären Filterblasen. Wer die Nachrichten beispielsweise über Facebook oder andere Online-Plattformen verfolgt, bekommt mehr von dem angezeigt, was er anklickt. Das heißt: Wenn ich mehrere Artikel zu WM anklicke, werden mir vermehrt Artikel zur WM angezeigt, politische und andere Meldungen verschwinden nach und nach aus meinem Feed. Deshalb kann es sein, dass einige Bürger ein "böses Erwachen" nach Ende der WM erleben.

Insgesamt lässt sich sagen, dass der Staat und die Medien hier keinen Verschleierungsversuch unternehmen. Wenn man sich beispielsweise durch das Schlagzeilen-Archiv der Süddeutschen Zeitung klickt, sieht man, dass über alle politischen Themen ausführlich berichtet wurde. Wie bei so vielen anderen Angelegenheiten sind hier die Bürger gewissermaßen in einer Bringschuld: Die Informationen sind da, man muss nur die Augen offen halten, öfters Nachrichten schauen und sich selbstständig informieren.
[zuletzt aufgerufen am 06.07.2018]

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